Vortragsabstract
Wie wird Schlaf zu einem wissensförmigen, bewertbaren und gestaltbaren Phänomen? In dieser Webinarsitzung der Reihe „Einführung in die Schlafwissenschaft“ beleuchten Svenja Reinhardt und Nico Wettmann die Entwicklung des Schlafs als Wissensobjekt – sowohl im medizinischen Schlaflabor als auch im digitalen Alltag – aus soziologischer Perspektive.
Mit der Erfindung des EEG zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es möglich, Ableitungen aus dem menschlichen Gehirn zu legen, mit denen begründet wurde, dass diese zu technisch vermessbar sei - ein Meilenstein für die Medizin. Der Legende nach entdeckte man im Rahmen dieser EEG-Forschungen am Menschen, dass sich die Gehirnwellen der Versuchspersonen veränderten, die bei den langwierigen Messungen einschliefen. Hieraus klassifizierte man den REM-Schlaf. Doch weder die Erkenntnisprozesse, die darauf folgten, noch die Etablierung der Schlafmedizin (auch nach Klassifizierung der Schlafapnoe), verliefen linear. Auf dieser Grundlage rekonstruiert Reinhardt zunächst die Entwicklung der Somnologie in Deutschland - mit besonderem Blick auf die Versuche, sie als eigenständige Disziplin zu etablieren.
Die Verfügbarkeit digitaler Medientechnologien und deren Möglichkeiten zur Quantifizierung, Klassifizierung und Visualisierung des Schlafs bringen die Ideen der laborbasierten Schlafvermessung immer mehr ins heimische Schlafzimmer. Beim Sleep Tracking, so die These von Wettmann, geht es weniger um die Abwertung oder Reduktion des Schlafs durch technologische Kontrolle, sondern vielmehr um eine Wertschätzung – hin zur Herstellung eines ‚funktionierenden‘ und letztlich ‚guten‘ Schlafs. Sleep Tracking ermöglicht somit die Produktion individuellen Schlafwissens, um den eigenen Schlaf zu verstehen und gezielt zu gestalten.
Im anschließenden Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Penzel, der im Aufbau eines der ersten Schlaflabore in der inneren Medizin in Deutschland beteiligt war, thematisieren sie zudem die Verbreitung Schlafmedizin in Deutschland und die Entstehung der DGSM als Fachgesellschaft.
Kurzportraits
Dr. Svenja Reinhardt
Svenja Reinhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Schlafwandeln: Widerspenstiges Wissen zu einem liminalen Zustand“ (2024-2026) am Fachgebiet Soziologie mit den Schwerpunkten Sozialstrukturanalyse und Konfliktsoziologie am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg. 2021-2024 war sie im DFG-Projekt „Schlafwissen. Zur Wissensgenerierung in Schlaflabor und Sleeptracking“ tätig. Zusätzlich ist sie Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Dortmund.
Zuvor studierte sie Rechtswissenschaften und Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal, der Universität Göteborg (Schweden) sowie der Eberhard Karls-Universität Tübingen , welches sie mit einem Forschungs- und Lehraufenthalt am King’s College in Kathmandu (Nepal) abschloss. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Sektion Wissenssoziologie, Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie).
Ihre wissenschaftliche Tätigkeit widmet sie der Erforschung von Wissenskrisen in verschiedenen Bereichen; neben der Schlafmedizin etwa von Auswärtigen zu Beginn der COVID-19-Pandemie, zu Verschwörungstheorien oder der Krisenkommunikation im deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Derzeit befasst sie sich im Rahmen ihrer Promotion mit der Produktion und Verbreitung schlafbezogenen Wissens, der Disziplinengenese und der Praxis der Schlafmedizin und -forschung. Zusätzlich erarbeitet sie ein soziologisch-phänomenologisches Verständnis des Schlafwandelns.
Dr. Nico Wettmann
Der Soziologe beschäftigt sich seit rund fünf Jahren intensiv mit dem Thema Schlaf und Sleep Tracking aus soziologischer Perspektive. Nach seinem Studium an der Universität Trier forschte er im DFG-Projekt „Schlafwissen. Zur Wissensgenerierung in Schlaflabor und Sleeptracking“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Universität Koblenz. In seiner Promotion „Sleep Tracking. Zur Genese des ‚guten‘ Schlafs“ analysierte er dann aus einer wissenssoziologischen Perspektive eine Wertschätzung des Schlafs, eine Produktion von Wissen über den eigenen Schlaf sowie die damit verbundenen Bewertungspraktiken.
Derzeit ist Nico Wettmann an der Universität Koblenz tätig, wo er sich im DFG-Projekt „Schlafwandeln. Widerspenstiges Wissen zu einem liminalen Zustand“ mit der digitalen Beobachtung, Darstellung sowie Verhandlung von Schlafwandeln auseinandersetzt. Darüber hinaus ist er als Gutachter für verschiedene Fachzeitschriften wie Human Studies, New Media & Society und Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies aktiv. Er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie) und war Leiter der Sektion „Media, Science & Technology“ am Gießener Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS). Zudem ist er als wissenschaftlicher Berater für eine Unternehmensberatung tätig, die sich zum Ziel gesetzt hat, gesellschaftliche und politische Themen stärker sichtbar zu machen.

Prof. Dr. rer. physiol. Thomas Penzel
Der studierte Physiker, Humanbiologe, Physiologe und medizinischer Informatiker, Dr. Thomas Penzel ist seit 2006 Forschungsdirektor des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums an der Charité Berlin. Wissenschaftlich hat er sich in den letzten 35 Jahren vornehmlich mit der Diagnostik, Pathophysiologie, und Therapie von Schlafstörungen, insbesondere von schlafbezogenen Atmungsstörungen, und hat zahlreiche Untersuchungen zu neuen diagnostischen Methoden in der Schlafmedizin sowie Kardiovaskuläre Regulation im Schlaf geleitet.
Neben seiner Arbeit an der Charité engagiert sich Thomas Penzel in seiner bisherigen Laufbahn in vielfachen Gesellschaften. So ist er Vorstandsmitglied des IEEE Engineering in Medicine and Biology (EMB), Vorsitzender des German Chapter IEEE-EMB
und Vorstandsmitglied des Vereins Schlafmedizin Berlin-Brandenburg e.V. Zudem übt er beratende Tätigkeiten in dem Komitee für Schlafmedizin der Europäischen Schlafgesellschaft (ESRS) und der World Sleep Association aus, und war bis 2024 er als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) e.V. aktiv. Er ist President-elect der World Sleep Society. Insgesamt ist Autor bzw. Co-Autor von mehr als 800 wissenschaftlichen Artikeln und mehr als 150 Buchkapiteln; darunter unteranderem die Gesundheitsberichterstattung des Bundes über „Schlafstörungen“, und das weit verbreitete Buch „Enzyklopädie der Schlafmedizin“. Auch war er in den letzten beiden Jahrzehnten an mehreren diagnostischen und therapeutischen Leitlinien zur Nicht erholsamen Schlaf beteiligt und gibt die Zeitschrift „Sleep and Breathing" als Editor in Chief heraus. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Im Jahr 2001 erhielt er den Bial Award in Klinische Medizin, 2008 den Bill Gruen Award für Innovationen in der Schlafwissenschaft durch die American Sleep Research Society und 2012 den Somnus Award.
